Teneriffa | Geschichte & Geschichten

Wie Kastilien die Kanarischen Inseln unterwarf
Wenn Du an die Kanarischen Inseln denkst, hast Du wahrscheinlich zuerst Sonne, Strände und vielleicht das milde Klima im Kopf. Urlaub, Ruhe, Meerblick. Doch diese Inseln, die heute als europäisches Paradies im Atlantik gelten, haben eine Vergangenheit, die alles andere als friedlich war.
Hinter dem Postkartenbild liegt eine Geschichte, die von Entdeckungen, Kämpfen, kulturellen Umwälzungen und der Begegnung zweier völlig verschiedener Welten erzählt. Die kastilische Eroberung der Kanaren im 15. Jahrhundert war ein langwieriger und teils blutiger Prozess. Sie veränderte das Leben der Ureinwohner für immer – und legte den Grundstein für das, was die Inseln heute sind.
Ich nehme Dich mit auf eine Zeitreise: in die Epoche vor der Eroberung, zu den Guanchen – den ersten Bewohnern der Kanaren – und durch die Jahrzehnte, in denen die spanische Krone nach und nach die Kontrolle über jede einzelne Insel übernahm.
Vor der Eroberung: Das Leben der Guanchen
Bevor europäische Schiffe vor den Küsten der Kanaren auftauchten, lebten hier Menschen, deren Herkunft lange rätselhaft war. Heute gilt als gesichert, dass die Guanchen von berberischen Völkern aus Nordafrika abstammten. Sie kamen vermutlich schon vor über 2.000 Jahren auf die Inseln – wie genau, ist bis heute nicht abschließend geklärt.
Die Guanchen lebten in enger Verbindung mit der Natur. Auf Teneriffa war ihre Gesellschaft in neun kleine Königreiche unterteilt – die sogenannten Menceyatos. Jeder Menceyato wurde von einem Mencey regiert, einer Art Stammeskönig. Diese politische Ordnung war für eine Inselbevölkerung erstaunlich komplex.
In Höhlen und Hütten lebend, betrieben die Guanchen Ackerbau, hielten Ziegen und verarbeiteten Ziegenmilch zu Käse. Sie kannten keine Schrift, doch ihre Kultur war reich an Mythen, Ritualen und Regeln. Die Art und Weise, wie sie ihre Toten mumifizierten, deutet auf eine tief verwurzelte Spiritualität hin – verbunden mit einem starken Glauben an das Leben nach dem Tod.
Was auf den ersten Blick „primitiv“ wirken mag, war in Wirklichkeit ein fein abgestimmtes Überleben in einer rauen Umwelt – angepasst an die Vulkanlandschaften, das Klima und die isolierte Lage im Atlantik.
Warum Spanien die Kanaren wollte
Im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts begann das Zeitalter der Entdeckungen. Portugal und Kastilien (das spätere Spanien) suchten nach neuen Routen, Reichtümern und Gebieten, die man wirtschaftlich nutzen konnte. Die Kanarischen Inseln lagen strategisch ideal: auf halbem Weg zwischen Europa, Afrika und – wie sich bald zeigen sollte – Amerika.
Für Kastilien waren die Kanaren mehr als nur ein geographischer Vorteil. Die Inseln versprachen auch wertvolle Ressourcen: Farbstoffe wie die Purpur-liefernde Cochenillelaus, später Zuckerrohr, Wein – und nicht zuletzt: Sklaven. Auch das Christentum spielte eine Rolle. In den Augen der spanischen Krone galt es, „heidnische“ Völker zu missionieren – eine gängige Legitimation für Eroberung in jener Zeit.
Portugal beanspruchte die Inseln ebenfalls eine Zeit lang, verzichtete aber schließlich nach diplomatischen Verhandlungen zugunsten Kastiliens. Damit war der Weg für eine schrittweise, jahrzehntelange Unterwerfung der Inseln geebnet.
Der lange Weg der Eroberung (1402–1496)
Was folgte, war keine schnelle Invasion, sondern eine zähe, in Etappen verlaufende Eroberung – teils durch offizielle Expeditionen, teils durch privat finanzierte Unternehmungen im Auftrag der Krone.
Den Anfang machte der Normanne Jean de Béthencourt, der 1402 auf Lanzarote landete. Er handelte im Namen Kastiliens, verfügte aber über große Freiheiten. Mit relativ wenig Widerstand übernahm er die Kontrolle über Lanzarote, bald darauf folgten Fuerteventura und El Hierro. Diese ersten Erfolge beruhten vor allem auf Abkommen mit einheimischen Herrschern – und gelegentlicher Gewalt.
Doch je weiter sich die Eroberer nach Westen vorkämpften, desto stärker wurde der Widerstand. Auf Gran Canaria leisteten die Einwohner jahrelangen, erbitterten Widerstand. Erst zwischen 1478 und 1483 konnten die Truppen unter Juan Rejón und später Pedro de Vera die Insel vollständig unterwerfen.
La Palma wurde 1492 durch Alonso Fernández de Lugo erobert. Der letzte Anführer der Ureinwohner, Tanausú, versuchte, die Bergregion Aceró zu verteidigen. Doch er wurde durch eine List in einen Hinterhalt gelockt, gefangen genommen – und starb auf dem Weg nach Kastilien.
Die größte Herausforderung wartete auf Teneriffa. Hier war der Widerstand am organisiertesten, besonders unter dem Mencey Bencomo. In der berühmten Schlacht von La Matanza (wörtlich: „das Massaker“) erlitten die Spanier 1494 eine verheerende Niederlage. Erst in einem zweiten Feldzug gelang es den Eroberern, die Insel 1496 vollständig zu unterwerfen. Damit endete der letzte organisierte Widerstand der Guanchen – und die Kanarischen Inseln waren nun Teil des kastilischen Königreichs.
Nach der Eroberung: Ein neues Kapitel beginnt
Mit dem militärischen Sieg begann eine Zeit grundlegender Veränderungen. Viele Guanchen wurden versklavt oder zur Annahme des Christentums gezwungen. Ihre Sprache, ihre Bräuche, ihre Weltanschauung – all das geriet in Vergessenheit oder wurde systematisch ausgelöscht.
Gleichzeitig begann die wirtschaftliche Neuordnung. Europäische Siedler – Spanier, Portugiesen, Genuesen – ließen sich auf den Inseln nieder. Es entstanden neue Städte, der Ackerbau wurde auf Exportgüter umgestellt, vor allem auf Zucker und später Wein. Die Kanaren wurden zur Drehscheibe zwischen Europa, Afrika und Amerika – auch für den transatlantischen Sklavenhandel.
Christoph Kolumbus machte auf seiner ersten Reise 1492 Halt auf La Gomera, wo er Vorräte aufnahm. Die Inseln wurden zu einer Art Sprungbrett in die „Neue Welt“ – und zu einem frühen Beispiel europäischer Kolonialisierung außerhalb des Festlands.
Was geblieben ist: Sprache, Namen, Erinnerung
Obwohl die guanchische Kultur weitgehend ausgelöscht wurde, sind ihre Spuren bis heute erkennbar – wenn man weiß, wo man suchen muss. Viele Ortsnamen auf den Kanaren stammen aus der vorspanischen Zeit. Besonders auffällig ist das bei Teneriffa selbst: Der Name geht vermutlich auf die Sprache der Einwohner von La Palma zurück. „Tene“ bedeutete „Berg“, „Ifa“ „weiß“ – also: der „weiße Berg“, der sich auf den schneebedeckten Teide bezieht.
Auch in der traditionellen Heilkunde, im Kunsthandwerk und in einigen Bräuchen lebt das Erbe der Guanchen weiter – meist in fragmentarischer Form. Museen wie das Museo de la Naturaleza y Arqueología in Santa Cruz de Tenerife zeigen Mumien, Werkzeuge und archäologische Funde, die ein Bild dieser versunkenen Welt vermitteln.
Ein persönlicher Blick zurück
Die Geschichte der Eroberung der Kanaren ist mehr als ein Kapitel in einem Geschichtsbuch. Sie ist die Wurzel vieler Aspekte des heutigen Lebens auf den Inseln – von der Sprache über die Landwirtschaft bis zur kulturellen Identität.
Wenn Du heute durch La Laguna gehst oder vom Aussichtspunkt am Teide das Wolkenmeer betrachtest, denk vielleicht einen Moment zurück an jene Zeit, in der diese Landschaften Schauplatz von Kämpfen, Begegnungen und Entscheidungen waren, die bis heute nachwirken.
Denn unter jeder Straße, jedem Lavastein und jedem historischen Gebäude liegt eine zweite Geschichte – die der Menschen, die hier lebten, lange bevor das erste spanische Segel am Horizont auftauchte.
Voriger Beitrag | Zurück zur Übersicht | Nächster Beitrag |