Teneriffa | Geschichte & Geschichten

San Borondón – Die verschwundene Insel der Kanaren
Ein Mythos zwischen Himmel und Meer, Glaube und Geografie
Im weiten Atlantik, westlich der Kanarischen Inseln, liegt – oder lag – eine Insel, die viele gesehen, aber niemand betreten hat: San Borondón. Seit dem Mittelalter fasziniert diese geheimnisvolle „achte Insel“ (damals!) Abenteurer, Seefahrer und Forscher gleichermaßen. Sie erscheint am Horizont mit Bergen und Tälern – nur um dann spurlos zu verschwinden. War sie ein Trugbild, eine göttliche Fata Morgana oder das Echo einer tieferen Sehnsucht nach dem Paradies?
Ursprung und Legende
Der Name San Borondón geht zurück auf den irischen Mönch St. Brendan den Seefahrer, der im 6. Jahrhundert gemäß der berühmten Navigatio Sancti Brendani eine weite Reise über das Meer antrat – auf der Suche nach dem „verheißenen Land der Seligen“. Der Legende nach entdeckte er eine Insel, auf der er mit seiner Gefolgschaft landete und eine Messe feierte. Doch sobald sie die Insel wieder verließen, verschwand sie im Ozean.
Diese keltisch-christliche Geschichte fand in der spanischen Welt lebhaften Widerhall und wurde auf den Kanarischen Inseln mit eigenen Überlieferungen verknüpft. Fortan sprach man von San Borondón, einer Insel westlich von La Palma oder El Hierro, die nur gelegentlich auftauche – als Schattenland zwischen Traum und Realität.
Historische Sichtungen und Karten
Zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert mehrten sich die Berichte von Sichtungen – von Fischern, Pilgern, Missionaren bis zu Militärs und Kartografen. Einige dokumentierte Hinweise:
- 1500 zeichnete der Kartograf Juan de la Cosa San Borondón in seinen berühmten Weltplan (Mapa Mundi), eine der frühesten erhaltenen Karten mit der Neuen Welt.
- 1570 erscheint die Insel auf dem berühmten Theatrum Orbis Terrarum von Abraham Ortelius.
- Auch Piri Reis, der osmanische Kartograf des 16. Jahrhunderts, führt die Insel in seinem Kartenmaterial.
- 1528 beauftragte König Karl I. von Spanien (später Karl V.) eine offizielle Expedition zur Lokalisierung der Insel – ohne Ergebnis.
Noch in den 1750er-Jahren wurden Anträge für neue Expeditionen gestellt, unter anderem vom kanarischen Historiker José de Viera y Clavijo.
Immer wieder hieß es: „Sie war da – doch wir konnten sie nicht erreichen.“
Erklärungsversuche
Fata Morgana
Die wahrscheinlichste natürliche Erklärung ist ein atmosphärisches Phänomen: Luftspiegelungen über dem Meer können entfernte Inseln – besonders La Palma oder El Hierro – wie eine neue, unerreichbare Landmasse erscheinen lassen. Diese Fata-Morganen entstehen bei starken Temperaturunterschieden zwischen Wasser und Luft und sind auf den Kanaren gelegentlich zu beobachten.
Mythologische Deutung
San Borondón steht in einer langen Tradition „verschwundener Inseln“, die in vielen Kulturen auftreten:
- Hy-Brasil in irischen Legenden
- Avalon in der Artussage
- Antilia in frühneuzeitlichen Atlantik-Karten
Diese Inseln sind oft mythische Orte der Hoffnung, Heilung oder Erlösung – nicht real, aber wirksam im kulturellen Gedächtnis. San Borondón verkörpert für viele das Unerreichbare, das Heilige – eine Atlantikversion des irdischen Paradieses.
Esoterische und spekulative Ansätze
In der modernen Esoterik wird San Borondón manchmal als interdimensionaler Ort, Zeitinsel oder sogar als Fragment von Atlantis interpretiert – ein Ort, der sich nur Menschen mit „offenem Geist“ zeigen soll. Für diese Lesarten existieren allerdings keine belegbaren Quellen – sie bleiben im Bereich moderner Mythenbildung.
Volksglaube und Kultur
In der kanarischen Kultur ist San Borondón tief verwurzelt – nicht nur als Legende, sondern als Teil des kollektiven Erzählens:
- Gedichte, Volkslieder, Geschichten und Sprichwörter handeln von der geheimnisvollen Insel.
- Fischer glaubten: „Wenn man San Borondón sieht, wird die Fischerei gut.“
- In manchen Erzählungen galt die Insel als Ort des Friedens, ein Rückzugsort der Heiligen – nicht als Bedrohung.
Noch heute berichten Menschen auf La Palma oder El Hierro gelegentlich von Sichtungen einer „dunklen Silhouette am Horizont“.
Weiterführende Literatur und Quellen
- Francisco Padrón: La isla de San Borondón – umfassende kulturhistorische Analyse.
- Navigatio Sancti Brendani – mittelalterliche Reiselegende (mehrfach übersetzt und kommentiert).
- José de Viera y Clavijo: Noticias de la historia general de las Islas Canarias (18. Jh.)
- Historische Karten: Ortelius, Piri Reis, Juan de la Cosa
- Antonio Rumeu de Armas: Beiträge zur Entdeckungsgeschichte der Kanaren.
San Borondón ist vielleicht keine Insel im geographischen Sinn – aber eine mächtige Projektion kollektiver Vorstellungen. Sie bewegt sich im Spannungsfeld von Religion, Entdeckungslust und menschlicher Imagination. Zwischen Realität und Illusion, Kartografie und Glaube verkörpert sie den Wunsch nach einem Ort jenseits des Sichtbaren.
Heute gibt es acht offizielle, bewohnte Inseln auf den Kanaren – San Borondón wäre die neunte. Eine Insel, die es womöglich nie gab – aber dennoch nie ganz verschwunden ist.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sankt-Brendan-Insel ►
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