Teneriffa | Geschichte & Geschichten

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Verworfenes Exil – Als die Kanaren Zuflucht für Juden sein sollten

Verworfenes Exil – Als die Kanaren Zuflucht für Juden sein sollten

Die Geschichte der Kanarischen Inseln ist voller Migration – oft erzwungener. Was viele nicht wissen: Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert tauchte ein ungewöhnlicher Plan in europäischen Debatten auf. Man erwog ernsthaft, Teile der Kanaren als Zufluchtsort für verfolgte Juden aus Osteuropa zu nutzen. Diese Idee, die heute fast vergessen ist, war Teil eines größeren politischen und ideologischen Kontextes – dem der frühen zionistischen Bewegung und europäischer Kolonialstrategien.

Der Hintergrund: Pogrome, Flucht und politische Ratlosigkeit

Ab den 1880er-Jahren kam es im zaristischen Russland immer wieder zu Pogromen gegen jüdische Gemeinden. Hunderttausende flohen nach Westeuropa, Nordamerika oder Palästina. Doch die Aufnahmebereitschaft war begrenzt – und die politischen Lösungen rar.

In dieser Atmosphäre entstanden verschiedene Ideen für alternative jüdische Territorien: Uganda, Argentinien, die Sinai-Halbinsel – und auch die Kanarischen Inseln. Diese galten als abgelegen, klimatisch günstig, politisch halbperipher und europäisch kontrolliert. In zionistischen Zirkeln wurde das Szenario ernsthaft diskutiert – wenn auch nur als eine von mehreren Optionen.

Erste Erwähnungen in jüdischen und britischen Kreisen

In Protokollen der Jewish Colonization Association (JCA) in London sowie in frühen Berichten der Zionistischen Weltorganisation tauchen die Kanaren als „mögliches Reserveterritorium“ auf. Auch in Artikeln der französisch-jüdischen Presse – etwa im Archives Israélites (Paris, 1900) – wurde ein „atlantischer Zufluchtsort“ erörtert.

Das Konzept sah eine halbautonome jüdische Ansiedlung auf einer oder mehreren Inseln vor – zunächst als Schutzraum, langfristig womöglich als kulturelles Zentrum. Teneriffa oder La Palma galten als logistisch besonders geeignet.

Spanische Reaktionen: Skepsis und Ablehnung

Offizielle spanische Stellen äußerten sich kaum – doch konservative Zeitungen wie La Ilustración Española y Americana (Madrid) bezeichneten die Idee als „inakzeptabel“ und warnten vor „ausländischem Einfluss“. Vor dem Hintergrund kolonialer Spannungen mit Großbritannien befürchtete man einen möglichen britischen Fuß in der Tür.

Zudem war in Spanien antisemitisches Denken noch immer stark mit dem katholischen Selbstverständnis verknüpft – trotz des seit Jahrhunderten weitgehenden Fehlens einer jüdischen Gemeinschaft auf den Inseln.

Warum aus der Idee nichts wurde

Nach dem ersten Zionistenkongress 1897 verlagerte sich der Fokus der Bewegung klar nach Palästina. Theodor Herzl prüfte zwar Alternativen wie das Uganda-Projekt, doch die Kanaren spielten darin keine Rolle mehr. Nach 1905 geriet die Idee endgültig in Vergessenheit.

Auch innerhalb jüdischer Organisationen wuchs die Skepsis gegenüber temporären Exillösungen in kolonialen Kontexten. Die Vorstellung eines jüdischen „Reservats“ auf spanischem Boden verlor an politischer Unterstützung.

Ein vergessenes Kapitel

Heute erinnert auf den Kanaren nichts an diese Episode. Es gibt keine Gedenktafeln, keine Erwähnung in Schulbüchern, keine öffentliche Diskussion. Nur verstreute Quellen in europäischen und israelischen Archiven deuten darauf hin, dass es diese Idee gab – wenn auch nur kurz.

Sie zeigt, wie eng die Kanaren mit den politischen Umbrüchen ihrer Zeit verknüpft waren – und wie Geschichte oft nicht daran scheitert, dass etwas passiert, sondern daran, dass es beinahe passiert wäre.

Quellen und weiterführende Informationen
  • Jewish Colonization Association (JCA): Jahresberichte 1898–1904, Archiv der Alliance Israélite Universelle (Paris)
  • Basler Protokolle der Zionistischen Weltorganisation (1897–1903), Central Zionist Archives (Jerusalem)
  • Archives Israélites, Jahrgang 1900, Artikelserie zur „Question Coloniale Juive“
  • La Ilustración Española y Americana, Ausgabe vom 7. Mai 1901 (Madrid)
  • John Cooper: Finding a Home for the Jews: Zionism and Territorialism before 1948 (2005)
  • Joseph Schechtman: European Jewish Colonization Projects (New York, 1966)
  • Archivo General de la Administración (AGA), Madrid: Außenpolitische Gutachten zur jüdischen Zuwanderung (1900–1905)

 

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