Teneriffa | Gesellschaft & Politik

Freiheit mit Sprengkraft – Die vergessene Unabhängigkeits-Bewegung der Kanaren
Unabhängigkeit – auf den Kanarischen Inseln klingt das nach einem Tabuwort. Dabei gab es eine Zeit, in der die Vorstellung eines freien, souveränen Archipels mehr war als eine Randnotiz. Sie war ein politisches Ziel. Mit eigenen Symbolen, einer Exilregierung und sogar einer Flagge. Die Bewegung, die dahinterstand, trug den Namen MPAIAC – Movimiento por la Autodeterminación e Independencia del Archipiélago Canario.
Exil in Algier, Sendungen nach Hause
Gegründet wurde die MPAIAC 1964 von dem aus La Palma stammenden Anwalt Antonio Cubillo. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Spanien noch die Franco-Diktatur. Opposition war gefährlich – lebensgefährlich. Cubillo ging ins Exil nach Algerien, wo er politisches Asyl erhielt und vom algerischen Staat unterstützt wurde. Von dort aus organisierte er den Widerstand – nicht mit Waffen, sondern mit Worten.
Über einen eigenen Kurzwellensender, „La Voz de Canarias Libre“, sendete die Bewegung politische Botschaften auf die Inseln. Die Sprache war kämpferisch, die Inhalte antikolonial. Cubillo sprach vom „Kolonialregime Madrid“, bezeichnete die Guardia Civil als Besatzungsmacht und forderte ein freies, afrikanisches Kanarisches Archipel.
International unterstützt – und beobachtet
Die MPAIAC erhielt nicht nur in Algerien Unterstützung, sondern auch von Kuba und der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU). In den 1970er-Jahren, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, rückten die Kanaren als geostrategischer Ort zwischen Europa, Afrika und Lateinamerika ins Interesse. Die Bewegung wollte die Phase des Umbruchs nach Francos Tod 1975 für ihr Ziel nutzen.
1978 erkannte die OAU die Kanaren offiziell als „Kolonie“ an und sprach der Bewegung das Recht auf Selbstbestimmung zu. Doch in Spanien selbst wurde kaum darüber berichtet. Wer sich öffentlich zur MPAIAC bekannte, riskierte Verfolgung oder gesellschaftliche Ächtung.
Der Anschlag – und sein tödlicher Umweg
Am 27. März 1977 detonierte eine Bombe auf dem Flughafen Las Palmas. Verletzt wurde niemand, doch es folgte eine Bombendrohung. Der Flughafen wurde evakuiert, viele Maschinen wurden nach Teneriffa umgeleitet. Darunter: zwei übergroße Passagierflugzeuge von KLM und Pan Am.
Auf dem kleinen Flughafen Los Rodeos kam es durch Missverständnisse und dichten Nebel zur bis heute schwersten Flugzeugkatastrophe der Luftfahrtgeschichte – mit 583 Toten. Die Bombendrohung der MPAIAC war zwar nicht direkt für das Unglück verantwortlich, doch sie war der Auslöser der Umleitung. Der Zusammenhang wurde später selten öffentlich thematisiert.
Das Attentat auf Cubillo
1985 wurde Antonio Cubillo in Algier Opfer eines Attentats. Zwei spanische Agenten attackierten ihn mit Messerstichen – im Auftrag des spanischen Geheimdienstes CESID. Cubillo überlebte schwer verletzt. Jahre später verurteilte ein Gericht den spanischen Staat zur Zahlung von Schmerzensgeld. Eine offizielle Entschuldigung gab es nie.
Das politische Ende der Bewegung
Mit dem Attentat endete die politische Wirkung der MPAIAC. Die Demokratisierung Spaniens, die neue Verfassung von 1978 und die Schaffung der Autonomen Region Kanarische Inseln 1982 nahmen der Bewegung die Grundlage. Antonio Cubillo kehrte 1986 auf die Kanaren zurück, gründete eine kleine Partei und kandidierte bei Regionalwahlen – mit minimalem Erfolg.
2012 starb er. In den Medien erschienen Nachrufe, teils kritisch, teils würdigend. Für viele blieb er eine widersprüchliche Figur: Idealist oder Brandstifter – je nach Blickwinkel.
Warum heute kaum jemand davon spricht
In der offiziellen Geschichtsschreibung Spaniens wird die MPAIAC kaum erwähnt. In Schulbüchern auf den Kanaren wird das Thema meist ausgespart. Die Erinnerung an Cubillo ist zwiegespalten. Einige sehen ihn als Symbol einer unterdrückten Bewegung. Andere werfen ihm Nähe zu autoritären Regimen und eine gefährliche Rhetorik vor.
Fest steht: Es gab eine Zeit, in der die Idee einer unabhängigen kanarischen Republik konkret war. Mit Verfassung, Flagge und internationaler Anerkennung. Und sie hatte ein Echo – wenn auch nur kurz.
Quellen und weiterführende Informationen
- José Luis León: Antonio Cubillo: El Hombre, el Mito, el Terrorismo (2007)
- Juan Francisco Santana Domínguez: La MPAIAC y la lucha por la independencia canaria (2011)
- El País, La Provincia, Canarias7: Artikel und Reportagen 1976–2012
- Archivo Histórico Nacional: Dossiers zum CESID und zum Attentat von 1985
- Protokolle der OAU-Sitzungen 1978 (Addis Abeba)
- Museo Canario: Abteilung zur politischen Nachkriegsgeschichte der Kanaren
- MPAIAC-Dokumente: Verfassungsentwurf und Radiosendungen aus dem Exil (Algerien)
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